Der Sturm auf Rom: Unterschied zwischen den Versionen
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Willkommen in der Ewigkeit! Wir schreiben den 1. Oktober 1980, hier meldet sich die ewige Stadt Jena. Das altehrwürdige Ernst-Abbe-Sportfeld ist natürlich ausverkauft, die Fankurve steht bereit, insbesondere der Fanclub The Eagles. Das Flutlicht gleißt, die Holztribüne ächzt vor Spannung, die Kernberge blicken dramatisch ins Saaletal hernieder. Ein lavaartiges Brodeln erhitzt die idyllische Arena. | Willkommen in der Ewigkeit! Wir schreiben den 1. Oktober 1980, hier meldet sich die ewige Stadt Jena. Das altehrwürdige Ernst-Abbe-Sportfeld ist natürlich ausverkauft, die Fankurve steht bereit, insbesondere der Fanclub The Eagles. Das Flutlicht gleißt, die Holztribüne ächzt vor Spannung, die Kernberge blicken dramatisch ins Saaletal hernieder. Ein lavaartiges Brodeln erhitzt die idyllische Arena. | ||
Version vom 10. März 2015, 16:13 Uhr
Wiederaufführung im August 2009
Im Rahmen der Kulturarena wurde am 17. August 2009 das Rückspiel im Europapokal 1980/81 gegen den AS Rom[1] noch einmal in voller Länge am Jenaer Theaterhaus gezeigt, selbstverständlich mit dem Originalkommentar des DDR-Fernsehens (Reporter Uwe Grandel). Selbst die Eintrittskarte ist fast identisch mit dem Original (siehe rechts). Christoph Dieckmann übernahm die Begrüßung der Besucher mit folgender Rede[2]:
Christoph Dieckmann
Der Sturm auf Rom
Gedanken vor dem Europapokalspiel FC Carl Zeiss Jena – AS Rom am 1. Oktober 1980, ausgesprochen in der Kulturarena am 17. August 2009
Freunde! Römer! Landsleute!
Willkommen in der Ewigkeit! Wir schreiben den 1. Oktober 1980, hier meldet sich die ewige Stadt Jena. Das altehrwürdige Ernst-Abbe-Sportfeld ist natürlich ausverkauft, die Fankurve steht bereit, insbesondere der Fanclub The Eagles. Das Flutlicht gleißt, die Holztribüne ächzt vor Spannung, die Kernberge blicken dramatisch ins Saaletal hernieder. Ein lavaartiges Brodeln erhitzt die idyllische Arena.
Liebe Fußballfreunde daheim an den Geräten: Manchem von Ihnen mag diese Erregung übertrieben scheinen. Geht´s denn überhaupt noch um etwas? Sind nicht längst alle Messen gesungen nach dem 0:3 von Rom?
Tapfere Anhänger des FC Carl Zeiss Jena: Ich spreche zu Euch in schwerer Stunde. Zu beschönigen ist nichts. Vier Tore müssen wir schießen, um die nächste Runde zu erreichen, und kein einziges darf den Römern, den Söhnen der kapitolinischen Wölfin gelingen, die in der ersten Partie im Stadio Olimpico so hungrig über Jenas Mannen hergefallen sind. Das Debakel begann bereits nach fünf Minuten mit Pruzzos 1:0. Ancelotti ließ in der 28. Minute den zweiten Treffer folgen, und Falcao, dieser Wunderbrasilianer, band nach einer guten, nein: nach einer fürchterlichen Stunde den Sack zu, in dem sich der FC Carl Zeiss längst befand, und schmiß ihn in den Tiber.
Aber, und dies ist die wichtigste Nachricht: Jena hat überlebt. Den drei Toren des AS Rom will ich drei Argumente entgegensetzen, die für die Saalestädter sprechen. Diese drei Argumente heißen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Zunächst die Gegenwart: Sie glänzt. Jenas Mannschaft steht unbesiegt an der Oberliga-Spitze. Kürzlich hat sie gar in einem internationalen Freundschaftsspiel den FC Bayern München 6:0 besiegt.
Wohl stimmt es: Wir haben keine West- und Weltstars in unseren Reihen, keinen Bruno Conti, Di Bartolomei, Benetti, Romano, Maggiore … Wir haben dafür arteigene Akteure, grandiose Kämpfer, die Schorsch Buschners Athletik mit der Schönheit des Thüringer Walds vereinen. Hier nun also die Jenaer Mannschaftsaufstellung: im Tor der zehnhändige Hans-Ulrich Grapenthin. Davor eine Eiche von Libero: Rüdiger Schnuphase. In der Verteidigung die Kraftzange Konni Weise – Lothar Kurbjuweit. Im Mittelfeld das mitteldeutsche Traumquartett Gerhard Hoppe, Dietmar Sengewald, Lutz Lindemann und Andreas Krause, von dem ich heute abend nicht viel erwarte, sondern alles. Dann unser Sturm: Thomas Töpfer, Jürgen Raab und der immergrüne Matz Vogel. Und auf der Bank lauern zwei Jungsporne auf ihre Chance: Martin Trocha, der blonde Pfeil, und ein junger Schlaks, gerade aus Zwickau gekommen, den Jenas Anhang wohl noch gar nicht kennt. Andreas Bielau heißt er; ich habe ihn in Zwickau spielen sehen: doppelt so schnell wie der Ball. Jenas jungdynamischer Trainer heißt bekanntlich Hans Meyer. Wenn ihm zu raten wäre, wenn das Spiel eng sein sollte, so um die 70. Minute, dann sollten wir alle von Hans Meyer fordern: BIELAU REIN!
Aber das ist Zunkunftsmusik. Ich bin noch immer bei der Gegenwart, und die sieht so aus, daß die beiden Mannschaften sich justament zum Auflaufen rüsten. Zum einen sehe ich, das muß ich so hart sagen, eine römische Elf, die vor Selbstherrlichkeit und Überhebung nur so strotzt. Demgegenüber erblicke ich die Jenaer Mannschaft: gestrafft, hochkonzentriert, bis in die Haarspitzen aufgeladen mit jenem historischen Optimismus, den es so nur in Thüringen gibt. Ich habe vorhin Jenas Spieler nach den Chancen auf´s Weiterkommen gefragt. Die Tips lagen durchweg oberhalb von fünf Prozent. Matz Vogel bot den Spitzenwert: glatte 35 Prozent. Solcher Optimismus ist der halbe Sieg.
Und nun die Zukunft. Zur Liebe, zumal im Fußball, gehören Träume. Ganz gewiß träumt kein Zeiss-Fan davon, in der ersten Runde auszuscheiden. So etwas erwarten die Fußballfreunde unserer Republik allenfalls vom BFC Dynamo, der heute abend auf Zypern zittert und einen 3:0-Vorsprung gegen Hapoel Nikosia über die Zeit retten will. In Jena wird Zukunft erträumt: daß im Ernst-Abbe-Sportfeld nach AS Rom auch der Cupverteidiger aufspielen möge, der FC Valencia, oder Benfica Lissabon, oder ein bißfester Underdog wie Newport County aus Wales. Viermal weiterkommen, dann stünde man im Finale, vielleicht gegen die Überflieger von Dynamo Tbilissi. Austragungsort ist Düsseldorf. Nun ja, was will´s der Worte mehr. Ich träume davon, daß die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik als Reaktion auf die hervorragenden Leistungen der Jenaer Fußballschaffenden eine Reisegesetzgebung in Kraft setzt, die es Normalfans gestattet, die fußballbegeisterten Genossen Parteisekretäre und Kampfgruppenkommandeure auf ihrer gefährlichen Reise nach Düsseldorf schützend zu begleiten. Wir kämen wieder, weil es drüben ja kein Jena gibt.
Schließlich das dritte Argument pro Jena: die Vergangenheit. Dreimal ist Jena DDR-Meister geworden, Rom nie. Viermal hat der FC Carl Zeiss den FDGB-Pokal errungen, zuletzt vor vier Monaten gegen einen Thüringer Außenseiter. Lange führte der FC Rot-Weiß Erfurt, dann hetzte ihn Raabs Kopfball in die Verlängerung. Dort wurde Erfurt waidgerecht erlegt, durch einen Doppelschuß von Kurbjuweit und Sengewald. Wer heute durch das schöne Erfurt geht, der spürt dort den Stolz auf diese knappe Niederlage. Viel Glück für Jena! wünschen die Erfurter. Und es ist gut, sagen sie, daß unsere Recken Schnuphase und Lindemann jetzt in Jena spielen, beim besten Thüringer Club. Wenn Jena siegt, fällt auch auf Erfurt Glanz.
Liebe Fußballfreunde! Ich sehe, daß die beiden Mannschaften endlich einlaufen wollen. Schiedsrichter Daina aus der Schweiz macht mir ungeduldig Zeichen. Aber lieber Sportfreund Daina, bevor ich hier nicht fertig bin, spielt sich auf dem Rasen gar nichts ab. Ich muß noch an zwei denkwürdige Partien erinnern. In der Erinnerung reiferer Zeiss-Fans lebt unauslöschlich der 4. März 1970. Auf Eis und Schnee empfing der FC Carl Zeiss Ajax Amsterdam – und führte nach einer halben Stunde 3:0. Und das war nicht genug. Das Rückspiel kam, in Amsterdam. Ich höre noch, wie der grandiose Wolfgang Hempel sich zur Halbzeit aus dem brüllenden Olympiastadion meldet: „Hallihallo, liebe Fußballfreunde in der Heimat“, so orgelte er mit Tragödenstimme von weither. „Der klare Vorsprung aus der ersten Partie …“ – Pause, Gebrüll aus 60 000 Holländerkehlen, dann wieder Hempel: „… er ist dahin.“
Möge eine ähnliche Botschaft heute Abend von Jena nach Rom übertragen werden! Arrivederci Roma! Nur der FCC!
Verweise
- ↑ Statistik zum Spiel
- ↑ Die Rede von Christoph Dieckmann kann auch in einem Amateurvideo angeschaut werden.