2003/2004 Vorbericht: 1. FC Magdeburg - FC Carl Zeiss Jena
Saison 2003/2004
NOFV-Oberliga - Vorbericht - 20. Spieltag
Zur Einstimmung: Magdeburg anno 1986
Der Fussballherbst des Jahres 1986 trug für den FCC wahrlich keine goldenen Blätter. Der Start in die Oberligasaison geriet mit 9:3 Punkten aus sechs Partien noch ganz passabel, doch Jenas erster Europapokal-Auftritt nach zweijähriger Abstinenz wurde zum Fiasko. Man spielte gegen Uerdingen, die im Jahr zuvor in einem legendären EC-Viertelfinalspiel Dresden zu Hause mit 7:3 geputzt hatten. Jena erging es in der Grotenburg nur unwesentlich besser, denn schon beim Hinspiel musste der FCC zum Bayerkreuze kriechen, doch trotz der dort empfangene 0:3 Klatsche fielen etliche Zeissfans nicht in Pessimismus; es hatte sich ja, schon einmal gezeigt, wie Jena, fast auf den Tag genau vor sieben Jahren, mit einer solchen Ausgangslage umzugehen weiß.
Ich gehörte vor dem Rückspiel nicht zu denen, die ernstlich an eine Wiederholung des 4:0 Triumphes gegen Rom glaubten, selbst wenn ich in schwachen Momenten schon ein wenig zu träumen begann. Ein Unentschieden hielt ich für wahrscheinlich, vielleicht auch ein 2:1 oder ein ähnliches Ergebnis. An ein Weiterkommen glaubte ich indes nicht.
Zumindest damit sollte ich recht behalten, doch ich ahnte im Vorfeld nicht, dass der 1. Oktober 1986 zum schwärzesten Tag in der Geschichte der Jenaer Europacup-Heimspiele werden sollte. 0:4 hieß es am Ende. Nachdem der FCC über eine Stunde so tapfer wie wirkungslos angerannt war, wurde die Jenaer Mannschaft in den letzten 22 Minuten durch die Krefelder seziert und fing sich 4 Treffer ein (später mal mehr zu diesem Vergleich). Es war erst die vierte oder fünfte Niederlage, die der FC Carl Zeiss Jena in all seinen 43 EC-Heimspielen je erlitt, doch bei den verlorenen Partien zuvor musste man sich stets nur mit einem Treffer Differenz geschlagen geben. Eine Pleite in dieser Höhe kannte man im Paradies nicht, eine derartige Demütigung hatte nie jemand im EAS erlebt und so blieb ein Gefühl der ungeheuren Frustration zurück, dass über das Spiel hinaus zu wirken drohte.
Das nächste Auswärtsmatch in Magdeburg sollte Aufschluss geben, wie die Jenaer das mittwöchliche Fiasko verarbeitet haben würden. An der Elbe hatte man sich ebenfalls bereits in der 1. Runde aus dem UEFA-Cup verabschiedet, gegen einen renommierten Gegner wie Athletic Bilbao dabei allerdings das Gesicht gewahrt und wenigstens einen Heimsieg gelandet. Gleiches schwebte den Bördestädtern nun gegen Jena vor. Die Blaugelbweißen hatten immerhin den zweiten Platz in der Oberliga im Ernst-Grube-Stadion zu verteidigen und als Zeissfan hoffte man natürlich, dass die Mannschaft mit einem Erfolgserlebnis ein bisschen helfen würden, das Trauma von Uerdingen schnell zu verdrängen.
Ich selbst überlegte, wie sich aus der Not des 0:4 eine Tugend machen ließe, und erinnerte mich der alten Weisheit, dass derjenige Glück in der Liebe haben werde, dem vorher Pech im Spiel widerfuhr. Also entschied ich mich zur Umsetzung eines langgehegten Vorhabens. Im Sommer hatte ich die große Liebe meines Lebens kennen gelernt. Üblicherweise traf ich diese in jedem Urlaub und folgte dabei jedes Mal dem Brauch, mich nur in jemanden zu vergucken, der schon fest, wenn auch vielleicht nicht übermäßig glücklich liiert war. Im Sommer 1986 war die Kugel auf eine Schöne aus Kyritz in der Prignitz gefallen, und da sie mir zum Abschied unter Tränen ihre Adresse verriet, nahm ich mir vor, ihr irgendwann mal die Aufwartung zu machen, natürlich in der Hoffnung, dass sie sich bereits aus ihrer alten Beziehung gelöst habe. Nun hielt ich die Stunde für gekommen, um mich vor dem Auswärtsmatch gegen Magdeburg nach Kyritz hin zu begeben, damit uns das Liebesglück nicht länger ferne stünde.
Dazu hatte ich einen bis ins Kleinste durchdachten Plan entworfen. Freitags wollte ich zur Oma ins Havelländische fahren und anderentags weiter gen Westen. Beim Dräuen der Morgensonne würde ich dann an der Maiden Türe klopfen und ihr offenbaren, dass die bitteren Jahre für sie nun allemal vorbei seien. Dann dürfte sie mich in die Arme schließen, das Volk um uns fiele darüber in Rührung, man überhäufte uns mit allerlei Gaben und Wohltaten, bis schließlich Pfaffe und Schulze kämen, uns vor den Altar führen und dort das Heilige Sakrament der Ehe zu schließen. An die Hochzeitsreise hatte ich natürlich auch gedacht, denn unter dem Jubel aller Stände sollte es in einer zwölfspännigen, reich mit blaugelbweißen Bändern geschmückten Kutsche hinausgehen in die weite Welt, um ein heimeliges Plätzchen zu finden, an dem Frischvermählte ihr junges Glück bis zur Neige auskosten können, und was eignete sich an solchen Freudentag wohl besser dafür als das Ernst-Grube-Stadion?
Bis zu meiner Ankunft in Kyritz klappte auch alles wie von mir vorausgesehen. Doch statt der Liebsten mein öffnete nach meinem stürmischen Klingeln eine Dame mittleren Alters im feinsten Kittelschürzen-Chic die Wohnungstür, an ihrer Seite der Erfinder des Sacking-Looks. Irritiert stammelnd erläuterte ich ihnen mein Begehr, worauf die Herrin des Hauses, nichts ahnend, dass sie vielleicht ihrem zünftigen Schwiegersohn gegenüber steht, mir folgenden Rat gab: „Na junger Mann, Sie können sich ja im Ort erst mal etwas umsehen. Antje (so hieß die Holde) ist das Wochenende bei ihrem Freund, vielleicht kommt sie ja heute mittag oder heute abend. Falls sie so lange warten wollen?“
`Waren sie von Sinnen? 15:00 war Anstoß in Magdeburg und sie schwadronierten hier von Warten und Zeitvertreib! Gewiss steckten sie unter einer Decke mit dem Unhold, dem sie mein Feinsliebchen versprochen hatten, und sie kannten sicher auch das finstere Loch, in dem die Ärmste schmachtend nach mir gefangen ward.´ Ich sinnierte kurz, wie ich ihre Zungen vielleicht lösen könne, aber mir fiel nichts Rechtes ein und die Uhr tickte unerbittlich weiter. So stand ich vor der Wahl, meinem Verein an diesem Nachmittag die Treue zu verweigern oder ein unglücklich Ding vorerst seinem Schicksal zu überlassen. Wer wahre Liebe kennt, weiß wie ich mich entschied. Selbst wenn es mir schwer fiel, der holden Weiblichkeit zu entsagen, doch wo der ewige Bund mit dem FCC gefährdet schien, da durfte es Zweifeln und Zögern nicht geben.
Also begab ich mich wieder zum Bahnhof und suchte dort Auskunft über die nächste Verbindung nach Magdeburg zu erlangen. Die Antwort war ernüchternd: Ankunft 15:35 Mdbg. Hbf.(oder so in der Drehe). Nun hatte ich seit früh weder gegessen noch getrunken. Die Schenken in Kyritz und dem nächsten Umsteigebahnhof in Neustadt/Dosse entsprachen jedoch nicht meinem Anspruch an eine gepflegte Gastronomie. So hielt ich Einkehr in einen Konsum und versorgte mich mit dem Notwendigen. Brot und Brötchen waren jedoch alt und trocken, die Wurst gritzegrau und der Käse glänzte nicht nur nach Edelschimmel. Um meinen Kalorienbedarf trotzdem zu decken, suchte ich nach einem Äquivalent dreier gut geschmierter Doppelschnitten und erwählte mir zu diesem Zweck 6 Pils. Da aber der Mensch ja nicht nur essen kann, sondern auch trinken muss, wanderte außerdem noch eine kleine Flasche „Pfeffi“ und ein 0,7 Rohr „Sizilietta“ mit ins Körbchen (Für die Spätgeborenen: Letzteres Gesöff wurde in der DDR unter der Bezeichnung „Zitronenlikör“ unters Volk gebracht und zählte bei Gelegenheitssäufern wie mir zu den beliebtesten Äthanolderivaten). Als dann legte ich mich während der Zugfahrt ins Zeug, um nicht auf dem Weg von Magdeburg Hauptbahnhof bis ins Stadion mit der Last unnützen Glases geplagt zu werden.
Glücklich erreichte mein Zug den Bahnhof der Elbestadt und da ich während der Reise nicht träge gewesen war, hemmte nur noch die „Sizilietta“ geringfügig mein Schrittmaß. Ich fand auch gleich im 8. Versuch die richtige Tram zum Stadion und erreichte knapp eine halbe Stunde nach Beginn der zweiten Halbzeit den Eingangsbereich. Dort angekommen zeigte das SED-Regime allerdings sein unmenschliches Gesicht, denn die Schergen am Einlass weigerten sich, mich in den Block zu lassen: „Mit der Flasche bleibst du aber schön draußen!“ In ihrer Rohheit drohten sie gar mit dem Entzug meiner eisernen Reserve. So weit war es also schon gekommen im Arbeiter- und Bauern- Staat, dass sie einem am liebsten noch den letzten Bissen in der Pulle geraubt hätten. Ich mochte mich damit keinesfalls abfinden und entwarf sogleich einen Masterplan, wie ich dem Unrechtsstaat den Garaus machen könnte. Das Ganze taufte ich auf den Namen „Die Wende“. Startschuss dafür sollte so Frühjahr/Sommer 1990 sein, aber irgendwelche Trittbrettfahrer klauten mir die Idee und versuchten es im Herbst ´89 auf eigene Faust, wobei sie die ganze Sache aber dermaßen verbockten, dass der FCC heute in der 4. Liga spielt.
Lange hielten die Schergen am Einlass mit ihrer Obstruktionspolitik jedoch nicht durch, denn zehn Minuten vor Spielschluss räumten sie verschämt das Feld und ich konnte fliegenden Schrittes dem Fanblock zustreben, wobei mir der wackelige Boden doch sehr zu schaffen machte und das Ankämpfen gegen die frische Brise im Stadion meinen Gang etwas unsicher erscheinen ließ. Inmitten der blaugelbweißen Horde erzählte ich dann erst mal von dem Verbrechen, das gerade an mir begangen worden war und gab freigiebig ab von dem kostbaren Nass, dass meinen Kumpels zu reichen mir die Hüter am Einlass so lange verwehrt hatten. Darob gab es ein lustiges Hallo und es wäre wohl noch ein fröhlicher Nachmittag geworden, wenn nicht kurz nach meinem Eintreffen der 1. FCM in der 85. Minute die 1:0 Führung erzielt hätte. Mitgenommen von den Ereignissen des Tages dauerte es ein Weilchen, bevor mir Boten diese unerfreuliche Veränderung des Spielstandes zutrugen, genaugenommen muss es nach Schlusspfiff gewesen sein, denn ich war wohl so ziemlich der Einzige, der im Glauben an ein ehrenvolles Remis das Spielende beklatschte.
Dann ward es Nacht für mich an der Elbe und Morpheus trug mich auf seinen Schwingen fort Richtung Thüringen. Dadurch verpasste ich, wie sich hinter meinem Rücken ein denkwürdiges Duell zwischen den Mächten des Himmels und jenen der Finsternis zutrug, denn während ich von der Englein Gesang behütet im seligen Schlummer lag, verfolgte Beelzebub einen finsteren Plan: Er schickte ein Double von mir auf den Weg, mit dem perfiden Ziel, mich übel zu beleumunden. Wie das geschah, davon erzählten mir im nachhinein meine Kumpels: `Nach dem Spiel habe man sich gegenseitig Trost zugesprochen und da es mich an diesem Tag besonders schlimm erwischt hatte, wäre mir, genaugenommen meinem Doppelgänger, die kostenlose Rückfahrt im Fanbus angeboten worden. Damit sei jener mir täuschend ähnlich Sehende einverstanden gewesen und hätte sich folgsam auf einen ihm zugewiesenen Platz begeben. So weit, so gut. Irgendwann während der Fahrt auf der Landstraße von Magdeburg nach Dessau wäre mein Double dann jedoch urplötzlich hochgeschnellt und eilends nach vorn gelaufen. Als Antwort auf die Frage nach seinem Begehr hätte er dann den Wunsch nach einem kurzen Stop kundgetan, sich dabei aber nicht wohlgefälliger Worte bedient, sondern versucht, dem eigenen Anliegen Nachdruck zu verleihen durch Schwall Erbrochenes, der sich auf Charlies bestes Hemd ergoss. Das habe wohl Zweifler von der Notwendigkeit eines kleineren Päuschens überzeugt. Als sich dann die Türen öffneten, sei mein Doppelgänger auf allen Vieren durch einen Straßengraben gekraucht, um sich auf der anderen Seite der Böschung von allem zu trennen, was in den letzten 14 Tagen bei ihm auf den Tisch kam. Anschließend wäre er stolzen Hundeganges wieder in den Bus gestiegen und hätte bis zur Ankunft in Jena laut schnarchend die Zeit verbracht.´
Wäre ich nicht aus Zufall justament zur selben Zeit, als der Bus in Jena ankam, wieder aus der himmlischen Obhut entlassen worden, hätte diese Geschichte meinen Ruf wohl nachhaltig schädigen könnte, denn ebenso plötzlich, wie mein Doppelgänger erschien, war er auch wieder fort, und ließ sich nicht mehr zur Rede stellen. Gottseidank konnte ich aber glaubhaft klarstellen, von der ganzen Sache nichts mitbekommen zu haben und da in Jena gerade Brauermarkt war und ich mich spendierfreudig zeigte, haderte keiner mit mir oder unterstellte mir gar eine Mitschuld an dem, was sich im Bus ereignet hatte. Trotzdem mied ich es, zu DDR-Zeiten nochmals mit dem Fanbus zu einem Auswärtsspiel zu reisen, mochten auch noch so viele Zeissfans Charlie mit der Frage bedrängen, wann denn der nette Entertainer von der Magdeburgpartie mal wieder mit auf Tour sei. Überdies habe ich mir fest vorgenommen, bei meiner ersten Zeitreise zur Sicherheit noch mal zu schauen, ob es an besagtem Tag doch Momente gewisser Peinlichkeit gab, die man eventuell korrigieren müsste.
Dem FCC gelang es damals leider nicht, sich ebenso schnell wie ich von dieser erneuten, kurz vor Schluss erlittenen Pleite zu erholen. Im nächsten Heimspiel gab es wieder eine 0:4 Klatsche, diesmal gegen den BFC. Es muss wohl die höchste Heimniederlage gegen einen Oberligagegner bis dato gewesen sein, denn selbst die Vorgänger Udo Gräfes fanden keine vergleichbare Pleite, seit Jena in den 50er Jahren aufgestiegen war. Bis zum Jahresende gelang Jena mit Ausnahme eines 2:0 im FDGB-Pokal in Dessau kein Pflichtspielsieg, man verlor dafür beim Aufsteiger in Cottbus mit 3:1, wobei man bereits zur Pause mit drei Toren hinten lag, spielte danach dank eines in letzter Minute durch Peschke erzielten Ausgleichs gegen Gorl-Morx-Stodt 1:1 und als es nach einem ebensolchem 1:1 in Frankfurt/Oder schien, dass sich die Mannschaft wieder gefangen hätte, verlor man am nächsten Spieltag zu Hause durch einen Doppelschlages in 70./72. Minute ausgerechnet gegen das Böse vom Steigerwald, und dass, obwohl man in der 30. Minute durch Peschke in Führung gegangen war. Als Jena nachfolgend bei der unterklassigen BSG Chemie in Leutzsch aus dem Pokal ausschied, wunderte schon keiner mehr. Die Saison war völlig verpfuscht, und nur dem guten Start war es zu danken, dass man sich trotz all dem noch im Mittelfeld befand.
Diese Sorge dürften wir diesmal nicht haben, selbst nicht bei einer möglichen Niederlage am Sonntag an der Elbe. Gelingt es den Magdeburgern, dank jugendlichem Sturm und Drang die Führung zu erzielen, könnte es zwar schwer werden für Jena, da sich relativ junge Mannschaften wie der 1. FCM mit ihrer Unbekümmertheit dann schnell in einen Rausch spielen. Der FCC hat allerdings bei Dresden-Nord beispielhaft bewiesen, wie man sich die Unerfahrenheit einer Truppe mit einem geringen Altersdurchschnitt zu nutze machen kann und deshalb bin ich optimistisch, dass die Blaugelbweißen auch die Truppe des früher als Schweinehirt besungenen Dirk Heyne ganz cool abzocken werden. Vielleicht weckt das Ernst-Grube-Stadion ja bei Andreas Schwesinger positive Assoziationen, denn mit seinem Last-Minute-Treffer zum 3:2 Auswärtssieg am drittletzten Spieltag der Saison 1999/2000 erwarb er sich bleibende Verdienste für Jenas Fußball der jüngeren Vergangenheit. Ich würde es ihm gönnen, damit er allen Kritikern beweisen kann, dass kein zweiter Ronny Kujat ist, der sein gottgegebenes Trefferkontingent während einer einzigen Saison in überaus frevelhafter Art fast vollständig verballerte, um nunmehr zu alter Stärke zurückzufinden, sondern in Leipzig wirklich Torhunger bekommen hat, den er jetzt bitteschön gegen Jenas Gegner stillen möge.
In diesem Sinne, auf nach Magdeburg!
--Al Knutone, 6. Feb. 2004