2005/2006 Vorbericht: FC Rot-Weiß Erfurt - FC Carl Zeiss Jena
Saison 2005/2006
Regionalliga Nord - Vorbericht - 34. Spieltag
Zur Einstimmung: Das Thüringenderby 1998
Oft traf man sich nicht am Steigerwald in der Nachwendezeit, denn nur ganze fünf Mal gab es seit 1990 ein Duell der beiden thüringischen Erzrivalen auf Erfurter Boden. Im ersten, und für lange Zeit letzten, Bundesligajahr der Rot-Weißen gewann der FCC im Erfurter Nebel mit 1:0 und trug damit seinen Teil dazu bei, die Reisewege des putzigen Vereins aus der Landeshauptstadt für die nächsten 13 Jahre nachhaltig zu verkürzen. Nachdem man beim FCC in der Bundesligasaison 1993/94 selbst der langen Touren überdrüssig wurde, sah man sich zum Rückrundenauftakt 1995 in der Regionalliga wieder. Auch diesmal vermochten es die Gastgeber nicht, den Ball im Kasten von Thüringens Nummer Eins zu versenken, holten aber immerhin einen Punkt, denn trotz gefühlter 80% Ballbesitz erzielte auch Jena keinen Treffer, schaffte aber trotz dieses 0:0 den sofortigen Wiederaufstieg in die Bundesliga.
Die Chancen auf solch baldiges Comeback des renommiertesten Thüringer Vereins waren nach dem abermaligen Jenaer Bundesligaabstieg 1998 deutlich geringer. Zu groß war der Substanzverlust einer zuvor schon nicht mehr bundesligatauglichen Truppe, als dass es dafür Hoffnung gegeben hätte. So war es fast zwangsläufig, dass der FCC nach der Hälfte der Hinrunde im Niemandsland des Mittelfeldes rumhoppelte und nicht den Hauch einer Chance hatte, einzugreifen in den Aufstiegskampf zwischen Chemnitz, Magdeburg und den beiden Bundesligamitabsteigern aus Leipzig und Zwickau. Doch es drohte noch Schlimmeres: Jena lief Gefahr, am Saisonende hinter jenem unaussprechlichen Verein zu landen, der von jeher im Fußball Inbegriff für ungelenkes Stümpern ist: Rot-Weiß Erfurt.
Das konnte, das durfte es nicht geben, mochten die Gesinnungslumpen in den Redaktionsstuben der RWE-Fanzines TA und TLZ im Vorfeld noch so oft die Sportseiten mit der These besudeln, den Besuchern des Derbys stünde in Aussicht, Zeuge des „Wachwechsels im Thüringer Fußball“ zu werden. Und wo unter den Zeissfans in den Wochen zuvor noch Resignation und Lethargie herrschten, da wuchs jetzt die Wut und mir ihr die Entschlossenheit, am Steigerwald durch die Kraft hunderter Kehlen mit beizutragen, dass die bewährte und gottgewollte Hierarchie in Fußballthüringen bestehen bleibt. Man wollte wieder kämpfen als Zeissfan, denn wenn der Ligaalltag auch trist war, so galt es doch wenigstens, den eigenen Stolz zu verteidigen.
Und so machte auch ich mich an einem Freitagabend auf den Weg ins Zentrum des Reiches der rot-weißen Finsternis, wobei ich auf der Strecke dahin noch einen Freund aus der Nähe von Erfurt besuchte, um dann anschließend mit dem Zug ab Sömmerda zum Spiel zu fahren. Schon am späten Nachmittag machte ich mich auf den Weg, in der Hoffnung, damit Kontakt zu Anhängern des putzigen Vereins aus der Landeshauptstadt vermeiden zu können, was sich sich jedoch als trügerisch erweisen sollte, denn vorm Fahrkartenautomaten am Bahnhof Sömmerda gewahrte ich einen Mittvierziger, der wohl nicht nur aus Schutz vor der Herbsteskälte mit einem rot-weißen Schal drapiert war.
Es hätte aber nicht dieses Kainsmales bedurft, um mir darüber klar zu werden, welchem Verein mein Vordermann anhing. Wenn ich mich auch häufig frage, was lebendige Wesen, die mit der Gabe der Vernunft beschenkt wurden, dazu bringt, diesen sonderbaren Verein vom Absteigerwald in ihr Herz zu schließen, dann schien es mir bei diesem Herrn als logische Konsequenz seiner Vorstellung von Geschmack und Ästhetik, entsprach er mit seinem Äußeren doch nahezu dem klassischen Bild, das ich mir von einem Rot-Weiß-Fan mache, denn alles an ihm strotzte voll wilder Entschlossenheit, sich dem Diktat der Modezaren und Fitnesspäpste zu verweigern. Eine kunstvoll mit Webpelzkragen besetzte kackfarbene Bomberjacke hatte er stilsicher kombiniert mit einer Buxe aus erlesenster grüner Ballonseide, wohl, um seine Sportlichkeit zu unterstreichen, vielleicht aber auch, weil sie genügend Raum bot, ein Becken zu umspannen, das mir stabil genug schien, schmerzfrei einen Pottwal zu gebären. Dazu gabs Tennissocken, Ursprungsfarbe mutmaßlich weiß, und als Ausweis von weltmännischer Eleganz ein paar schiefgelatsche Slipper an den Füßen.
Zeit, ihn zu mustern, hatte ich genug, zumindest anfänglich. Doch der Umgang meines Vordermannes mit dem Fahrkartenautomaten warf bei mir nach einer Weile die Frage auf, ob es wirklich wohl durchdacht sei von der Deutschen Bahn, Sömmerdaer RWE-Fans durch die Konfrontation mit solcher Technik auf unbarmherzige Weise ins Informationszeitalter zu schleudern. Nachdem ich hörbar zu murren anfing und der Fahrkartenautomat auch das mehrmalige Rütteln am Auswurfschacht nicht als Aufforderung zur Herausgabe der Billetts zu interpretieren verstand, wandte sich der Beau in Rot-Weiß mit der Frage an mich, ob ich es denn selbst mal versuchte wolle, natürlich nicht, ohne mich darauf hinzuweisen: „Das Dingens iss awer waaahrscheinlich kaabutt.“
Dieser Irrtum ließ sich durch ein paar behände Tastendrücke schnell beheben, wie auch der RWE-ler erkannte und mich alsbald nachzueffen versuchte. Für einen Putzi schienen es der Bedienungsschritte aber doch einige zu viel gewesen zu sein und so traf mich alsbald ein hilfesuchender Blick ins Mark. Da ich mich seit frühester Jugend keinem geringerem Ziel verschrieben habe als dem Kampfe um die sittliche Hebung und Veredlung des Menschheitsgeschlechtes, konnte ich mich diesem Rufe nach Unterstützung nicht verweigern. Sodann schritt ich zur Tat und führte meinen Adepten durch das Bedienungsmenue, erläuternd bis zu der Stelle, da zum Einwurf der Penunzen aufgefordert wird. Verehrung bis ans Ende meiner Tage schien mir daraufhin gewiss und mein Gegenüber vermittelte den Eindruck, mit Zeichen der Dankbarkeit nicht knausern zu wollen, sondern mir zumindest seine Anwesenheit auf der Fahrt nach Erfurt zum Geschenk zu machen, was ich nicht nur aus Bescheidenheit anzunehmen mich schämte.
So lief ich denn Gefahr, unendlich lange 25 km das Abteil mit jemandem teilen zu müssen, über dessen Wahl zum Rot-Weiß-Fan des Jahres die Bild vermutlich titeln würde „Wir sind Pups!“. Der Zug fuhr bereits am Bahnsteig ein, als mir der rettende Gedanke kam. In dem Moment, da mein neuer Freund nach zittrigem Suchen in seiner Börse einen anderen Reisenden mit der Frage nach passendem Kleingeld bedrängte, drückte ich kurzerhand so lang die Sprachwahltaste, bis im Display ein „Seleccionar billete!“ erschien, und konnte dann mit ruhigem Gewissen aus dem abfahrenden Zug verfolgen, wie ich damit dem rot-weißen Pfiffikus jede Menge Rätselspaß für die kommenden Stunden beschert hatte.
Die Zeit der selbstgewählten Einsamkeit sollte bis zum Erfurter Stadtpark dauern. Dort fand ich mich wieder in einem Meer hunderter Zeissfans, dass im Stadion auf weit über 1000 Mann anschwellen sollte. Wochen zuvor hatten sich im Bruno-Plache-Stadion beim nominellen Spitzenspiel gegen Lok noch ganze 120 Blaugelbweiße verloren, jetzt tobte ein Mob auf den Rängen, wie ich ihn zuvor selten in Erfurt erlebt hatte, voller Hoffnung, dem Erzrivalen und seinen Fans Paroli bieten zu können. 25 Minuten trug diese Hoffnung, dann patzte Weißgärber im Jenaer Kasten zum ersten Mal und Erfurts Anhang stimmte seinen Chor an aus Triumph- und Spottgesängen. Noch war der Vorsprung der rot-weißen Kicker gering, noch wehrten sich Jenas Spieler, doch was sie auch taten; es reichte nicht wirklich, um die Hausherren gefährden zu können.
Das spürte man auch im Gästeblock. Es fehlte nicht am Willen bei Gerstner und Co.; es fehlte schlicht am Können. Und dann kam die 66. Minute, als Erfurt einen Freistoß erhielt, der Ball über die Mauer segelte und im Netz landete. Aus. Kein trotziges „He FC Carl Zeiss!“ mehr, das gegen die Tribüne ansang. Ein süffisantes „Oberliga – Jena ist dabei!“ füllte das Rund. Drei Minuten nach der 2:0-Führung wurde die Häme kurz unterbrochen, als RWE-Kapitän Tews mit Gelb-Rot vom Feld ging. Aber dann wurden die Großmäuler auf der Tribüne leiser, denn was erst als Randnotiz erschien, entpuppte sich mehr und mehr als Wendepunkt des Spiels. Jena mit der zweiten Luft, in dem Maße stärker werdend, wie die Hausherren auf einmal ihre Souveränität verloren. In der 78. Minute klingelt es im Erfurter Kasten, direkt vor den Augen der Zeissfans. Das Tor lässt die Siechen wieder von der Bahre steigen, im Zeissblock schreit man sich die Kehle raus. Dann die 80. Minute. Jena schnürte Erfurt abermals ein und dann zieht Roussajew ab und Hunderte Jenaer Fans springen in die Höhe, als wieder das Tornetz wackelt. „Ja! Wir leben noch!“
Die letzten zehn Minuten wurden zu einem Spiel aufs Erfurter Tor. Zweimal lag der Torschrei den Zeissfans noch auf den Lippen, doch beide Hochkaräter in der Schlussphase blieben ungenutzt. Am Ende stand ein 2:2 auf der Anzeigetafel. Ein Unentschieden, doch dieser eine Punkt hatte für mich mehr Wert als viele Siege zuvor. Jenas Anhang hatte seinen Stolz wieder zurück gewonnen, der freie Fall war aufgehalten, ausgerechnet an dem Ort,wo ein Straucheln am Schmerzhaftesten wäre. Der Erfurter Hybris die Grenzen gezeigt zu haben; das war das Wichtigste dieses Abends. Es war ein innerer Genuss, auf der anschließenden Kneiptour durch Erfurt in all die tumben Gesichter von Rot-Weiß-Fans zu schauen, in denen sich noch Stunden nach Spielschluss die Unfähigkeit spiegelte, das Erlebte adäquat verarbeiten zu können und zu akzeptieren, dass Jena die Nummer Eins in Thüringen ist:
In der Vergangenheit, der Gegenwart und in der Zukunft!
--Al Knutone 0:09, 28. Apr. 2006